Das deutsche Schachspiel.

Rückblicke und Erinnerungen

von
Jean Dufresne.

Aus: "Ueber Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung." 1882.

 

Den großen Triumphen, welche Deutschland durch Wiederherstellung seiner Einheit und Macht gefeiert hat, ging etwa um zwei Jahrzehnte ein deutscher Triumph auf friedlichem Gebiete des Wetteifers der Kulturvölker voraus. Sieg im harmlosen Spiel auf dem Schachbrett war der Vorgänger des Sieges im blutigen Ernst der Wahlstätten.

Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts gehörte den Franzosen und Engländern der Ruhm der Schachmeisterschaft an. Mit dem Jahre 1851 trat ein dem Auslande unerwarteter Umschwung ein, indem Deutschland, durch Adolph Anderssen im Londoner Weltturnier vertreten, sich mit den Siegeslorbeeren schmückte.

Zur Erklärung dieses Vorgangs möge die folgende Darstellung dienen.

In Deutschland, wie fast überall in Europa, wurde von jeher in den verschiedensten Kreisen der Gesellschaft dem edlen Spiel gehuldigt. Ein deutscher Fürst sogar, Herzog August von Braunschweig, hielt es mit seiner Würde vereinbar, im Jahre 1660 ein umfangreiches Schachwerk unter dem Titel: "Das Schach= oder Königsspiel" (Uebersetzung des Rui Lopez), zu veröffentlichen. Dennoch war die Pflege des Spiels bei den romanischen Völkern heimischer. Die hervorragendsten älteren Autoren sind Spanier, Italiener und Franzosen, unter denen Philidor durch Veröffentlichung seiner "Analyse de jeu des échecs" sich unvergänglichen Ruhm erworben hat. Das erste werthvolle deutsche Schachbuch, das auf der Höhe der theoretischen Ausbildung stand, ist erst im Jahre 1826, von Johann Allgaier verfaßt, in Wien erschienen. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde namentlich in den großen Städten, wenn auch viel, so doch recht mittelmäßig gespielt.

Als nach der Schlacht bei Jena der französische Meister Deschapelles die Berliner Schachgesellschaft besuchte, schlug er mit Vorgabe eines Thurmes ihre stärksten Spieler und war bescheiden genug, diese Großthat als "Nachtrag zum Siegesbulletin" nach Paris zu melden.

Wesentlichen Fortschritt veranlaßte in den zwanziger und dreißiger Jahren der Einfluß des Berliner Meisters Mendheim. Schachgelehrter im weitesten Sinne des Wortes und ausgezeichneter Praktiker, entschied er durch guten Rath in einer Korrespondenzpartie zwischen Berlin und Breslau den Sieg zu Gunsten seiner Vaterstadt und veröffentlichte eine Sammlung trefflicher Originalprobleme.

Jedoch erst der ihm folgenden Generation war es vorbehalten, vor dem europäischen Schachareopag sich Geltung zu verschaffen. Der lebhafteste Antrieb ging von Berlin aus, indem dort in den vierziger Jahren eine Anzahl hochbegabter Schachfreunde zusammentraf, welche in beständigen Wettkämpfen untereinander zur Meisterschaft sich ausbildeten. Es waren die Herren Lieutenant v. Bilguer, Legationssekretär v. Heydebrandt und der Lasa (der spätere preußische Gesandte), die Assessoren Mayet und Hanstein, Oberlehrer Dr. Bledow, die Maler Schorn und Horwitz. Da diese Schachfreunde vielfach an öffentlichen Orten spielten, sammelte sich um sie ein Kreis von Bewunderern und Nacheiferern.

Unter den genannten hat sich das größte und bleibendste Verdienst der Lieutenant v. Bilguer erworben, indem er den Plan der Herstellung eines musterhaften Lehrbuches mit wissenschaftlicher Gründlichkeit entwarf und durch Beihülfe seiner Freunde v. Heydebrandt und Mayet zur Ausführung zu bringen begann. Der Autor, der durch sein ausgezeichnetes Spiel (er kämpfte häufig ohne Ansicht des Brettes in der damals sehr bekannten Fuchs'schen Konditorei unter den Linden) großes Aufsehen erregte, starb in früher Jugend, auf dem Sterbebette seinem Freunde v. Heydebrandt die Vollendung des begonnenen Buches, die Frucht seiner Lebensmühen, an's Herz legend. Mit deutscher Treue und Gewissenhaftigkeit, unterstützt von persönlicher Begabung, hat v. Heydebrandt das dem Sterbenden gegebene Wort gehalten. Unter seiner Hand ist das v. Bilguer'sche Handbuch, dessen sechste Auflage im vorigen Jahr erschienen, ein klassisches Werk geworden. wie keine andere Nation ein ähnliches aufzuweisen hat! Von großer Bedeutung war demnächst der Einfluß des Oberlehreres Dr. Bledow, eines genialen Spielers, der als Präsident der Berliner Schachgesellschaft, Anfänger ermuthigend und ausbildend, einen Kreis hervorragender Männer der Wissenschaft und Kunst, hochgestellter Staatsbeamten und angesehener Kaufleute um seine liebenswürdige Persönlichkeit zu vereinigen wußte. Er war es auch, der das erste deutsche Schachjournal unter dem Namen "Berliner Schachzeitung" in's Leben rief. In Folge dieser Veröffentlichung begann man nun auch im Auslande, namentlich in England, einen Blick auf die in Deutschland gespielten Partieen zu werfen. Notabilitäten, welche Berlin besuchten, wie der Livländer Kieseritzky, der Ungar Szen, fanden ebenbürtige Gegner vor. An der Herstellung des Blattes nahmen die erwähnten Meister lebhaften Antheil, indem jeder nach besten Kräften Beiträge lieferte. An Partieen fehlte es nicht, wohl aber an geeigneten Aufgaben, wie mir Herr v. Heydebrandt erzählt hat; denn die Problemkunst, welche jetzt in Deutschland zu so hoher Vollkommenheit gelangt ist, war damals noch recht unausgebildet! Das Zusammenleben jener Schachfreunde hatte nur kurze Dauer, indem theils ihr Lebensberuf sie nöthigte, Berlin zu verlassen, theils auch der Tod ihre Reihen lichtete. Allein in Folge ihrer Einwirkung hatte sich in Berlin ein sehr reges Schachleben entwickelt. Die in Blüte stehende Schachgesellschaft hielt im Sommer ihre Sitzungen in den schattigen Anlagen des Blumengartens vor dem Potsdamer Thor, im Winter im Café Belvédère auf dem Opernplatz, wo auch außerhalb jener Gesellschaft eine freie Vereinigung von Schachspielern sich niedergelassen hatte, welche dort tägliche Zusammenkünfte hielt.

Als siebzehnjähriger Jüngling betrat ich im Jahre 1846 zum ersten Male das Café Belvédère. In Bezug auf meine Person muß ich bemerken, daß ich die Anfangsgründe von meinem Vater erlernt hatte, der ein persönlicher Freund Mendheim's war. In seiner Bibliothek befanden sich deutsche und französische Philidorausgaben. Die berühmte Analyse blieb mir jedoch, obwohl ich sie bis auf die kleingedruckten, meistens die Bauernführung betreffenden Anmerkungen rastlos und pietätvoll studirte, ein Buch mit sieben Siegeln, aus dem ich zu klarem Verständniß nicht zu gelangen vermochte. Ich wußte eben nicht, daß man, um Philidor zu würdigen, bereits Kenner des Spiels sein muß. Förderlicher war mir der Kalabrese Greco und Georg Walker's Anweisung, von Schiereck in's Deutsche übersetzt. Am meisten belehrte mich praktische Uebung. Als ich erst in den eigentlichen Sinn und Zusammenhang der Kombinationen eingedrungen war, machte ich schnelle Fortschritte. Man erzählte mir, daß die wirklichen Kenner des Schachspiels im Café Belvédère verkehrten. Im Jahre 1846 also, als Primaner des grauen Klosters, entschloß ich mich während eines freien Nachmittags, dorthin zu gehen. Es fehlte mir nicht an feierlicher Stimmung, als ich die dem Schach geweihten Räume betrat, und mit ehrfurchtsvoller Scheu näherte ich mich den langen, hell erleuchteten Tischen, an welchen die Spieler kämpften. Bald fesselte mich nicht nur das Spiel, sondern noch mehr die Beobachtung der hier verkehrenden Schachoriginale. Hier saß ein Herr, trotz der großen Hitze des Zimmers in den Mantel gehüllt, das sorgenschwere Haupt auf den Ellenbogen gestützt, tief nachsinnend, unruhige Worte murmelnd, während der Gegner ungeduldig auf und ab ging; dort machte eine anderer bei jedem Zuge eine humoristische, seine Stimmung kennzeichnende Bemerkung. Sein Partner dagegen, wie ich später erfuhr, ein berühmter Jurist, Vorsitzender der Justizexaminationskommission, war außer sich über die Fehler des eigenen Spiels und überhäufte sich selbst in lauten Ausrufen mit den schwersten Insulten. Den freundlichsten Eindruck machte die Partie Grünbaum=Kossak. Beide, ausgezeichnete Musikkenner, begleiteten ihre Züge mit dem Gesangsvortrag von bekannten Arien, welche der Situation des Spiels entsprachen. So wurde der Zuschauer Ohrenzeuge eines höchst ergötzlichen Potpourris. - Ich bemerkte einen älteren, militärisch aussehenden Herrn, der, sichtbar gelangweilt, vor einem einsamen Schachbrett saß, und forderte ihn schüchtern auf, mit mir eine Partie zu machen. Er betrachtete mich verwundert von Kopf bis zu Füßen und bejahte verdrießlich brummend. Wir gingen an's Werk. In einem kritischen Augenblick bat mich mein Gegner, wie ich später erfuhr, der Oberst von Carisien, ihm einen wichtigen Zug zurückzugeben. Gern war ich hiezu bereit und zwar nicht nur in diesem Falle, sondern mehrfach anderweitig. Da ich selbst jedoch späterhin einen Stein berührte und mich dann entschloß, einen anderen zu ziehen, rief er unwillig: "Pièce touchée, pièce jouée!" und versagte die Erlaubniß.. Als ich nun darauf aufmerksam machte, daß ich ihm bereits mehrere entscheidende Züge zurückgegeben, rief er heftig aus: "Das dank' Ihnen der Teufel!", und beharrte bei seiner Weigerung. Das Benehmen des Sonderlings verstimmte mich keineswegs, zumal es mir trotz jenes Zwischenfalles die Partie zu gewinnen gelang. - In der freien Vereinigung des Belvédère führte Professor Wolf, Lehrer der Malerei an der Akademie der Künste das Schachszepter. Er war ein bereits hochbejahrter Herr, der in seiner Jugend als Schüler des Malers David in Paris gelebt in sich dort große Stärke im Schachspiel erworben hatte, so daß er später in Berlin als ebenbürtiger Gegner sich mit Mendheim messen konnte. Ich machte bei meinen ferneren Besuchen die Bekanntschaft diese sehr jovialen und gesprächigen Meisters und wurde bald sein dauernder Gegner. Während einiger Monate gab er mir einen Springer vor, und da er die Partie stets um einen Einsatz spielte, verlor ich anfangs regelmäßig mein Taschengeld. Bald aber wandte sich das Blatt, indem er häufig verlor und genöthigt wurde, mit mir gleichauf zu spielen. Als wir aber auch dann mit abwechselndem Kriegsglück kämpften und die Wagschale sich zu meinen Gunsten zu neigen begann, erklärte er mir eines Tages lächelnd: "Sie sind jetzt eine zu ernste Partie für mich geworden. Suchen Sie gefälligst einen jüngeren Gegner auf!" Einen solchen fand ich in der Person des Lieutenants v. d. Goltz von der Kriegsschule, einem liebenswürdigen Offizier und Schachenthusiasten, der vorzüglich spielte. Mit ihm und seinem nicht minder begabten Freunde, dem Studiosus Müller aus Torgau, kämpfte ich längere Zeit fast täglich. Lieutenant v. d. Goltz ließ eine Partie, die ich gegen ihn gewann, in der Berliner Schachzeitung abdrucken, wodurch ich schon als Gymnasiast in den Kreisen der Schachspieler bekannt zu werden anfing.

Als ich nach erledigtem Abiturientenexamen im Jahre 1848 eines Tages das Café Belvédère besuchte, traf ich zufällig dort den durchreisenden berühmten Schachspieler Daniel Harrwitz aus Breslau, der eben aus England zurückkehrte, wo er sich im Kampfe mit britischen Gegnern den Ruf hoher Meisterschaft erworben hatte. Er erwartete, einer Verabredung entsprechend, den Regierungsrath Hanstein. Da sein Gegner jedoch geraume Zeit ausblieb, forderte ich ihn auf, inzwischen mit mir zu spielen. Die Partie, die sich entwickelte, nahm einen merkwürdigen Verlauf. Es gelang mir, heftigen Angriff einzuleiten, und nach Durchführung einer starken Opferkombination hielt ich den schlesischen Meister für rettungslos verloren, als er plötzlich mittelst eines geistvoll ersonnenen Gegenopfers sich von der drohenden Gefahr nicht bloß zu befreien, sondern auch in wenigen Zügen den Sieg für sich zu erkämpfen schien. Dieß war jedoch nur der äußere Anschein. Nach reiflicher Ueberlegung erkannte ich, daß die Widerlegung in einem Opfer der Dame bestand, welches mit voller Sicherheit die Niederlage meines Gegners herbeiführen mußte. Ich machte den entscheidenden Zug, indem ich die Dame einstellte, und Harrwitz - gab die Partie auf. Ich war während dieses Vorgangs zu sehr in den Verlauf des Spiels vertieft, um zu bemerken, was um mich her vorging. Als ich nunmehr aufblickte, sah ich unsern ursprünglich einsamen Tisch von zahlreichen, mir Beifall spendenden Zuschauern umgeben, und bemerkte unter diesen mit freudiger Ueberraschung den inzwischen eingetroffenen Regierungsrath Hanstein, der mir die Hand drückte und mich aufforderte, Mitglied der Schachgesellschaft zu werden. - Jene Harrwitzpartie wanderte durch alle Schachjournale, und Hanstein sowohl in der Berliner Schachzeitung, als auch Howard Staunton in Cheßplayer's Chronicle begleiteten sie mit mehreren für mich schmeichelhaften Bemerkungen. Während meiner nun folgenden Studienjahre spielte ich leider nur zu viel Schach, selbst als Mitglied der bewaffneten Studentenschaft, welche in jener bewegten Zeit öffentliche Sicherheitsdienste zu leisten hatte. Bald fand ich keinen mir gewachsenen Gegner. Selbst Karl Mayet, ein vorzüglicher und origineller Spieler, der erwähnte Mitarbeiter des v. Bilguer'schen Handbuchs, verlor gegen mich die Mehrzahl der Partieen. Unter meinen Schachfreunden befand sich auch ein sehr geachteter und liebenswürdiger Kaufmann, Eliasson, der von Breslau nach Berlin übergesiedelt war. Dieser erzählte mir häufig, daß in seiner Vaterstadt ein Meister Namens Anderssen lebe, den er für das größte Schachgenie halte. Die Ausdrücke seiner Bewunderung waren so überschwenglich, daß ich im Stillen glaubte, es sei ein wenig Lokalpatriotismus dabei im Spiele. Dennoch war ich sehr angenehm überrascht, als er mir eines Tages mittheilte, Anderssen sei in Berlin eingetroffen und erwarte mich Nachmittags im Blumengarten.

Ich begab mich dorthin und sah zum ersten Male den merkwürdigen Mann, der unbedingt als die bedeutendste Schachpersönlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet werden muß.

Anderssen (geb. in Breslau am 6. Juli 1818) war zweiunddreißig Jahre alt. Sein Aeußeres machte damals keinen bedeutenden Eindruck und entsprach recht dem Bilde eines Schulamtskandidaten, der er wirklich war. Ziemlich groß und mager, ging er etwas gebückt und hatte ein Alltagsgesicht mit unregelmäßigen, nichts weniger als schönen Zügen. Erst in späteren Jahren hat seine Erscheinung sich vortheilhaft umgewandelt, um ganz der Vorstellung zu entsprechen, die man sich wohl von einem großen Schachmeister macht. Haltung und Benehmen waren damals fast schüchtern und ein wenig befangen. Er redete mich freundlich in echt schlesischem Dialekt an und bald saßen wir einander gegenüber, in eine schottische Partie vertieft.

Sein ganzes Auftreten war nicht geeignet, mir zu imponiren, ich spielte schnell und mit einiger Siegessicherheit. Als wir etwa zur Mitte gelangt waren, glaubte ich durch einen entscheidenden Zug mir sicheren Sieg zu verschaffen. Doch kaum hatte ich ihn gemacht, so bewies mir die Antwort meines Gegners, daß er denselben wohl erwartet, jedoch weiter gerechnet hatte als ich, und daß ich in eine Falle gerathen war, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Ich verlor. Nunmehr steigerte ich meine Anstrengung. Vergebliches Mühen. Ich verlor auch die nächsten vier Partieen und erkannte, daß ich meinen Meister gefunden hatte. Ich war sehr verstimmt und beschloß im Stillen, das Schachspiel ganz aufzugeben. Anderssen's gütiger Zuspruch richtete mich jedoch bald wieder auf, und während der nächsten Tage seines Aufenthalts in Berlin erzielte ich bessere Erfolge.

Ungefähr um dieselbe Zeit beschlossen die britischen Schachspieler, daß im Verein mit der großen Londoner Weltausstellung ein internationales Schachturnier verbunden werden sollte, das erste Unternehmen dieser Art. Die wesentliche Anregung ging von Howard Staunton aus, der, nachdem er den Franzosen St. Amant im Match geschlagen, für den stärksten Schachspieler der Welt galt. Bedeutende Siegespreise wurden ausgesetzt und die Schachgesellschaften aller Nationen ersucht, ihre Vertreter zum Wettkampf nach London zu senden. Ein zweiter Besuch Anderssen's in Berlin, der in den Sommer 1850 fiel, bestimmte die Berliner Schachgesellschaft, den Breslauer Meister mit dem Ehrenamte der Vertretung des deutschen Schachspiels bei jener denkwürdigen Gelegenheit zu betrauen. Während dieses Besuches und eines zweiten mehrmonatlichen im Jahre 1851, der bis zu seiner Abreise nach London dauerte, spielte ich täglich mit Anderssen, im Ganzen wohl gegen hundert Partieen, von denen viele in Schachzeitungen abgedruckt worden sind. Ich erkannte allmälig, daß ein wesentlicher Theil seiner Ueberlegenheit auf seiner größeren Kenntnis der Theorie der offenen Spiele beruhte, und begann geschlossene zu wählen, welche der Untersuchung weniger zugänglich sind. Dieß Verfahren war mir dienlich; denn am Schluß unserer Zusammenkünfte war es stets zweifelhaft, wenn wir spielten, wer von uns Beiden gewinnen würde. Der Sieg schwankte hin und her.

Das Andenken an jene Schachperiode wird mir stets unvergeßlich bleiben. Anderssen war unverwüstlich, spielte in bester Laune von früh bis spät. Da ich in Pankow, in der Nähe Berlins, wohnte, fuhr ich früh Morgens um acht Uhr nach der Stadt, wo ich Anderssen in der Wohnung Eliasson's erwartete. Er war ein sehr pünktlicher Mann und recht verdrießlich, wenn ich nicht um neun Uhr an Ort und Stelle mich befand. Ich war jedoch nicht der Erste, mit dem er kämpfte, mit dem er kämpfte; denn vorher hatte sich stets schon Assessor Gubitz eingestellt, um einige Frühpartieen in der Schnelligkeit zu verlieren. Wir spielten bis Mittag. Dann kamen Nachmittags in der Schachgesellschaft andere Gegner an die Reihe, namentlich Karl Mayet, ferner der Jugendliche Max Lange aus Magdeburg und Meister Falkbeer aus Wien, welche Beide, um mit Anderssen zu spielen, sich nach Berlin begeben hatten.

Demnach hatte Anderssen, ehe er zum Turnier abreiste, durch Uebung mit starken Gegnern seine Kraft erheblich gesteigert. Sein Sieg in London war ein glänzender, indem er unter 21 Partieen, die er dort spielte, 14 gewann, 5 verlor und 2 remis machte. Die Rückkehr Anderssen's war ein großer Triumphzug.

In den nachfolgenden Jahren wurde der deutsche Meister durch seine Berufsthätigkeit als Professor am Friedrichsgymnasium in Breslau zu sehr in Anspruch genommen, als daß er sich auf der Höhe der Stärke im Schachspiel erhalten konnte. Nichtsdestoweniger beschloß er im Jahre 1858, als der jugendliche Amerikaner Paul Morphy sämmtliche Gegner, die in England und Frankreich sich ihm entgegenstellten, geschlagen hatte und kurz vor seiner Abreise in Frankreich verweilte, den transatlantischen Schachheros zum Wettkampf herauszufordern. Als dieser einwilligte, eilte er in ritterlicher Aufwallung nach Paris. Die beiden Gegner kämpften um keinen andern Einsatz, als um ihren Ruhm. Der Ausgang des Zusammentreffens war für Anderssen ungünstig. Er erlitt die erste empfindliche Niederlage, indem er unter 11 Partieen 7 verlor, 2 gewann und 2 remis machte. Die Zahl dieser Spiele ist jedoch zu gering, als daß man den Erfolg für einen ausreichenden Maßstab der gegenseitigen Spielstärke ansehen könnte; auch verdient hervorgehoben zu werden, daß die von Anderssen gewonnenen durch ihre Schönheit vor allen übrigen sich auszeichnen. Beide Gegner verkehrten freundschaftlich während des Kampfes und beschenkten sich beim Abschied in ritterlicher Art. Mehrfach, jedoch stets vergeblich, hat der deutsche Meister später Gelegenheit zu einem zweiten Zusammentreffen mit Morphy gesucht, der noch heute in krankem Zustande in New=Orleans lebt.

Während der folgenden zwanzig Jahre zeigten sich Anderssens Charaktereigenschaften in schönstem Lichte. Sie bestanden in unerschütterlicher Tapferkeit und ruhigem Gleichmuth, welcher, auf richtiger Schätzung des eigenen Werthes ruhend, ihn im Glück vor Selbstüberhebung, im Unglück vor Kleinmuth bewahrte. Siegreich hielt er es für unvereinbar mit seiner Würde, auf den errungenen Lorbeeren auszuruhen. Bei der ersten Gelegenheit war er sie wieder auf's Spiel zu setzen bereit. Geschlagen erhob er sich jedoch ungebeugt, um den verlorenen Ruhm auf's Neue zu erkämpfen.

Im zweiten Londoner Schachturnier 1862 erhielt er abermals den ersten Preis, indem er gegen elf Mitkämpfer, unter denen sich Louis Paulsen und die damals noch jugendlichen Steinitz und Blackburne befanden, alle Partieen mit Ausnahme einer (gegen Owen) gewann. Im Match gegen Steinitz, der einige Jahre später ebenfalls in der Hauptstadt Englands um einigen Einsatz gespielt wurde, unterlag Anderssen, indem er 7 verlor und 5 gewann. Aber auch in diesem Falle gehören seine Gewinnpartieen zu den schönsten, die je gespielt worden sind. Die Klippe, an der er häufig scheiterte, war zu große Kühnheit des Angriffs und Abneigung vor langweiligen Kombinationen, denen er selbst auf Unkosten der eigenen Sicherheit auszuweichen liebte. In der Eigenschaft des ersten Siegers triumphierte er zuletzt in Baden=Baden 1870. Größere und geringere Erfolge sind ihm außerdem bis an sein Lebensende 1879 zu Theil geworden. Schließlich waren leidende Gesundheit und vorgerückte Jahre wohl im Stande, seine Ausdauer und Aufmerksamkeit abzuschwächen; aber die Schönheit, der Glanz und die Originalität seiner Spielweise blieben bis zu seinem letzten Auftreten im Pariser Schachturnier 1878 unverändert. Dabei ist wohl zu berücksichtigen, daß er nur seine Mußestunden für die Pflege des edlen Spiels verwenden konnte, da er der Lehrthätigkeit als Gymnasialprofessor in der rühmlichsten Art vorstand. Auch nahmen Leistungen auf mathematischem Gebiet, wegen derer die Universität Breslau ihn zum Ehrendoktor ernannte, seine Zeit nicht unerheblich in Anspruch.

Außer einer Sammlung ausgezeichneter Originalprobleme, die ganz den Geist seines praktischen Spiels wiederspiegeln, hat Anderssen kein abgeschlossenes Schachwerk hinterlassen. Allein von größter Bedeutung war seine lebendige Lehre. Gleich den Philisophen des Alterthums stets von lernbegierigen, ihn verehrenden Jüngern umgeben, die er zur Meisterschaft heranbildete, untersuchte er gemeinschaftlich mit ihnen die Theorie der Eröffnungen. Es gibt kaum eine, welche nicht durch seine Forschungen umgestaltet und verbessert worden wäre. Die schönsten Gambitspiele tragen für alle Zeiten die Spuren seiner genialen Hand.. So hat er denn mehr geleistet, als alle modernen Autoren, welche mehr oder minder nur das vorhandene Material bearbeitet haben.

Von seinen ältesten Gegnern leben noch der erwähnte Horwitz, Autor klassischer Studien, ferner der preußische Gesandte v. Heydebrandt und Harrwitz, welche Herren sämmtlich seit vielen Jahren nicht mehr öffentlich spielen. Dann folge ich selbst.

Nachdem ich im Jahre 1853 im Berliner Schachturnier, an welchem sich u. A. die Herren Mayet, Lange und Professor Wolff betheiligten, den ersten Preis gewonnen, bildete sich bei mir die Ueberzeugung aus, daß ich, um auf der Höhe der Spielstärke zu bleiben, mehr Zeit für praktische Uebung verwenden müßte, als meine Berufsthätigkeit mir gestattete. Ich beschäftigte mich daher in meinen Mußestunden mit der Theorie und verfaßte mehrere Werke, zu denen Anderssen Originalbeiträge geliefert hat. Sobald der Großmeister Berlin besuchte, spielte ich stets mit ihm und zwar zuletzt im Jahre 1868 im Hause des Herrn B. Marx in Gegenwart Zukertort's und anderer Schachfreunde mit gutem Erfolge, indem ich unter 6 Partieen, die in der neuen Berliner Schachzeitung abgedruckt wurden, 3 gewann, 2 verlor und 1 remis machte.

Mein nächster Altersgenosse ist der bekannte Schachautor Dr. Max Lange. Eine folgende Generation bilden Suhle, Neumann, Mises, Hirschfeldt und Schallopp, von welchen nur noch Letzterer mit regem Eifer weiter kämpft. Die Anderen haben sich vom Schachspiel zurückgezogen, und G. R. Neumann ist kürzlich nach vieljährigen Leiden verstorben. Die jüngsten Schüler Anderssen's sind J. H. Zukertort, erster Sieger im Pariser Schachturnier von 1878, und der jugendliche Fritz Riemann, der sich im Braunschweiger Turnier 1880 rühmlichst ausgezeichnet hat. Auch auf die Ausbildung anderer vorzüglicher deutscher Schachmeister, wie der Herren Minkwitz, Dr. Konst. Schwede, fritz, Bier, W. Paulsen und des nur zu früh verstorbenen Professors Göring, hat Anderssen's Einfluß erheblich eingewirkt.

Der bedeutendste und selbstständigste deutsche Meister, der ihm während der letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens entgegentrat, war Louis Paulsen (geb. 1833 in Blomberg), der während mehrjährigen Aufenthalts in Amerika seine Spielstärke erwarb und bereits 1857 im Turnier zu New=York den zweiten Siegespreis erkämpfte. Nach Europa zurückgekehrt, bewährte er sich in zahlreichen Wettkämpfen als ebenbürtiger Gegner Anderssen's, indem er bei verschiedenen bedeutenden Gelegenheiten abwechselnd gegen ihn gewann und verlor. Aus dem Meisterturnier, das 1877 in Leipzig zur Anderssenfeier veranstaltet wurde, ging Louis Paulsen als erster und Anderssen als zweiter Sieger hervor. In dem hieran schließenden Wettkampf beider Herren, ihrem letzten Zusammentreffen, siegte Louis Paulsen mit 5 gegen 3 Gewinnpartieen. - Die Individualität Beider ist grundverschieden. Man kann Anderssen als den großen Angreifer, Paulsen als den großen Vertheidiger bezeichnen. Und wie im praktischen Spiel dieser Gegensatz sich kundgab, zeigte er sich auch in ihrer theoretischen Wirksamkeit. Während Jener fast jede Eröffnung durch Auffindung geistvoller Angriffsmomente bereichert hat, ist von Diesem nicht minder Bedeutendes für die Vertheidigung geleistet worden.

Zu den deutschen Schachkoryphäen gehören auch die Oesterreicher: Ernst Falkbeer, der nach längerem Aufenthalt in England jetzt wiederum in Wien lebt, Baron Kolisch, erster Sieger im Pariser Schachturnier 1867, und der seit vielen Jahren in London wohnende Wilhelm Steinitz, erster Sieger des Wiener Schachturniers von 1873. In Wien wird vorzüglich gespielt. Unter dem Vorsitz des Barons Albert v. Rothschild herrscht in der dortigen Schachgesellschaft reges Leben, und in der Mitte sind neuerdings bedeutende Talente, wie Adolph Schwarz, Fleißig und Englisch, herangereift. Hohen Rang als praktische Spieler nehmen auch der berühmte Problemkomponist Johann Berger, sowie Wittek in Graz ein.

Mit Anderssen's Ableben hat das deutsche Schachspiel, wie Herr v. Heydebrandt mir gegenüber sehr richtig bemerkt hat, sein Centrum verloren. er war ja der Bannerträger, um den sich alle deutschen Kämpfer schaarten. Allein es ist unverkennbar, daß diese Lücke, wie jede irdische, sich schon wieder auszufüllen beginnt. Zur Belebung der Theilnahme für das scharfsinnigste aller Spiele hat die Begründung des deutschen Schachbundes im Jahre 1879 sehr erheblich beigetragen. Dieser bereits aus 75 Schachgesellschaften bestehende Verein, um dessen Organisation und Leitung der Generalsekretär desselben, Herr Zwanzig in Leipzig, sich große Verdienste erworben hat, veranstaltete im vorigen Jahre in Berlin seinen dritten Kongreß, in dessen Meisterturnier der Engländer Blackburne den ersten, der Deutsche Zukertort den zweiten Siegespreis erkämpft haben. Die auf Grund dieses Ausganges in verschiedenen Zeitungen des Aus= und leider auch des Inlandes ausgesprochene Behauptung, daß das deutsche Schachspiel sich im Niedergange befinde, trägt schon deshalb das Gepräge der Unwahrheit an der Stirn, da ja kurz vor dem Turnier Blackburne von Zukertort in einem Weltaufsehen erregenden Match, der in London um den Einsatz von 100 Pfd. Sterl. gespielt wurde, mit großer Ueberlegenheit geschlagen worden ist. Oder wäre man berechtigt, den in Deutschland geborenen, im Wesentlichen von Anderssen ausgebildeten Zukertort nicht mehr zu den Deutschen zu zählen, weil er seit einer Reihe von Jahren in England lebt? Auch bildet sich bei allen Schachkennern mehr und mehr die Ueberzeugung heraus, daß Wettkämpfe, in denen jeder mit jedem nur e i n e Partie spielt, wohl in ihrem Erfolg erweisen, wer bei der Gelegenheit am besten gespielt hat, nicht aber, wer überhaupt der Stärkste unter Allen ist. Wenn namentlich, wie in Berlin, wochenlang täglich gekämpft wird, so daß sich der Theilnehmer während dieser Zeit in eine sogar nach der Uhr geregelte Schachmaschine verwandelt, muß auf den Ausgang nicht bloß die Begabung, welche im Grunde doch allein gemessen werden soll, sondern auch der Gesundheitszustand und das Lebensalter der Mitkämpfer sehr erheblich Einfluß ausüben. Diesem Umstande darf man es u. A. wohl zuschreiben, daß Zukertort zwei Partieen durch starke Versehen verloren und Louis Paulsen, der älteste Theilnehmer, sein großes Talent weniger als sonst zur Geltung gebracht hat.

Mit dieser Schlußbetrachtung will ich nur die Sachlage kennzeichnen, keineswegs die Siegeslorbeeren dem Engländer Blackburne verkümmern, der während des ganzen Turniers, sowohl als der Anfang für ihn sich ungünstig gestaltete, als auch während des weiteren Verlaufs bis zu dem für ihn so ruhmvollen Schluß durch musterhafte Selbstbeherrschung und Bescheidenheit sich ausgezeichnet hat.